Übergänge



"Heimat als Zukunft", sagte der alte Mann, "kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wie soll denn das gehen? Soll ich etwa die seit sechsundfünfzig Jahren in meinem Haus und Dorf lebenden Polen, die dort eine neue Heimat gefunden haben, mit Gewalt oder mit Geld von meinem Grund und Boden vertreiben? Beides übersteigt mein Vermögen. Und letztlich habe ich mich jetzt, da mir nur noch wenige Lebensjahre vergönnt bleiben, damit abgefunden, fern der Heimat und als Vertriebener in der Fremde zu leben. Nee, nee, Heimat als Zukunft gibt es für mich nicht mehr! Da mache ich mir nischt vor." Der junge Mann nickte dem Alten wortlos zu. Ein Schein von Zustimmung huschte über sein gebräuntes Gesicht, und in seinen rehbraunen Augen blitzte für einen kurzen Blick Erstaunen und Bewunderung auf. Als auch sein freundliches Lächeln verflogen war, das seinen Mund umspielte, sagte der Junge nachdenklich: "Ich als Spätaussiedler habe kein so schweres Los wie Sie zu tragen, weil ich meine Heimat aus freiem Entschluß verlassen habe. Mein Heimatverlust ist kein gewaltsam erzwungener, sondern ein relativ frei gewählter, weil ich weder in einer totalitären Diktatur noch mit dem Verbot der deutschen Sprache leben wollte. Insofern bin ich höchstens im übertragenen Sinne ein Vertriebener, der vermutlich zu unrecht einen Vertriebenenausweis besitzt. Heimat als Zukunft kann ich mir deshalb sehr wohl vorstellen. Ich gestalte und bewohne sie vielleicht schon. Hoffentlich werde ich nie mehr gezwungen, sie zu verlassen." - "Ich begreife nicht", sagte mit leisem Vorwurf der alte Mann, "warum Sie so lange in der Heimat Ihrer Kindheit und Jugend geblieben sind, obwohl Sie dort weder deutsch sprechen noch in Freiheit leben durften. Ja, warum Sie und Ihre Eltern nicht rechtzeitig vor den Sowjets geflohen, warum Sie und Ihre Eltern nicht gewaltsam vertrieben worden sind wie unsereins?" - "Das läßt sich einfach erklären", entgegnete der Junge. "Beim Einmarsch der Sowjets wurde nicht nur unser Haus in Brand gesteckt, sondern mein Vater wiederholt mit der Pistole bedroht und meine Mutter vergewaltigt. Wenig später wurden beide interniert: mein Vater zur Zwangsarbeit in den Kaukasus, meine Mutter zur Demontage der deutschen Rüstungsbetriebe in Reigersfeld und Blechhammer. Als beide ausgemergelt und krank heimkehrten, brauchten sie viele Wochen, um wieder gesund zu werden und für sich selbst und ihre Kinder den Unterhalt zu verdienen. An Aussiedlung war unter diesen Umständen ebensowenig zu denken wie an Vertreibung, zumal mein Vater als gelernter Schießhäuer und geschätzte Arbeitskraft keine Ausreiseerlaubnis erhielt, aber auch nicht vertrieben wurde, weil er in keiner NS-Organisation Mitglied gewesen war. Und da wir im sogenannten Reich keine Verwandten hatten, konnten wir auch keine Zuzugsgenehmigung vorlegen, die für die Ausreisegenehmigung erforderlich war. So flossen die Jahre dahin, bis meinem Vater, inzwischen Invalide mit Gesteinslunge und Rentner geworden, endlich nach vielen vergeblichen Anträgen die Ausreise gestattet wurde. So verloren wir die Erstheimat und kamen in die Fremde, die uns bald zur Zweitheimat wurde."
Der alte Mann machte den Eindruck, als hörte er das eben Vernommene zum ersten Mal in seinem Leben. "Warum habe ich bislang davon nichts mitbekommen", sagte er versonnen mehr zu sich selbst als zu dem jungen Mann gewandt, der ihn gespannt ansah. "War ich all die Jahre nur mit meinem Vertriebenenschicksal so sehr beschäftigt, daß ich auf das Los der Spätaussiedler gar nicht aufmerksam wurde? Welch paradoxe Welt! Ich wollte die Heimat nie verlassen, weil ich dort Grund und Boden besaß, und wurde aus ihr vertrieben. Sie wollten die Heimat verlassen, weil Sie dort weder Grund noch Boden besaßen, und durften es nicht. Und nun leben wir beide in der Fremde unserer Zweitheimat, ich gezwungenermaßen, Sie freiwillig, und sind so beide heimatlose Schicksalsgenossen. Denn ich ahne, daß auch diese Zweitheimat in der Fremde noch nicht die Heimat als Zukunft ist, sonst hätten wir doch kein Heimweh oder Fernweh. Mir scheint, als müsse der Mensch sein Leben lang durch viele Zwischenheimaten wandern, begleitet vom Heimweh nach der verlorenen und vom Fernweh nach der Heimat als Zukunft, um endlich von der Erstheimat seiner Kindheit und Jugend in die Letztheimat seines Lebens zu gelangen, nach der seine Seele ihre Flügel ausspannt, als flöge sie nach Hause." - "Ja", stimmte ihm der Junge zu, "vielleicht ist Heimat nur dort, wo man kein Heimweh und auch kein Fernweh mehr hat."






© 2001 Ernst Josef Krzywon